Carlotta
Brunetti Denk-Räume
Im
Zeitalter der Beschleunigung durchmessen wir
den Raum mit ungeheurer Geschwindigkeit, und
daß >sich von Asien nach Europa die Welt
ändern kann...<" (Paul Virilio,
"Fahren, fahren, fahren...", Berlin
1978, S. 34), daran sind wir kaum mehr
interessiert. Der Raum wird zu einer sich
weitenden Größe, die nur noch durchmessen,
aber nicht mehr wahrgenommen werden kann. Aus
dem Flugzeugfenster wird die Erde zu einem
Muster.
Calotta
Brunettis Arbeiten sind nicht von ungefähr
Skulpturen, denn diese messen sich mit dem
Raum, der sie umgibt. Sie fordern vom
Betrachter, daß er sich sowohl ins
Verhältnis zur Skulptur als auch zu dem
umgebenden Raum setzt. Die erste Annäherung
fordert Konzentration auf den kleinen, mit
wenigen Schritten zu durchmessenden Raum. Die
Betrachterin, der Betrachter werden einen
"Denkraum der Besonnenheit" "
wie Aby Warburg sagen würde " brauchen,
um das eigene Verhältnis, das eigene Maß zu
den Arbeiten zu gewinnen. Diese Haltung, die
den Binnenraum gegen den Weltenraum
verteidigt, ist möglicherweise eine Reaktion
der Künstlerin auf den drohenden Verlust der
Eigenwahrnehmung in einem Raum, den der
Mensch mit seiner Geschwindigkeit nicht mehr
erfahren kann und will. Die "Denkräume
der Besonnenheit" bleiben ungenau auf
der Strecke, die mit x-facher
Schallgeschwindigkeit genommen wird.
Das Auge
muß an den Skulpturen Carlotta Brunettis
verweilen, um die winzigen und graduellen
Veränderungen im Material erkennen zu
können. Der5Betrachter sird zum
Spurensucher, um den hauchdünnen Auftrag der
Farbe oder das Blattgold entdecken zu
können. Er wird herausfinden können, daß
das Holz "arbeitet", daß durch den
Trocknungsprozeß oder durch unterschiedliche
Umweltbedingungen Risse im Holz entstehen,
daß es sich dehnt und krümmt. Vielleicht
sieht die Betrachterin oder der Betrachter im
Körper des Holzes den eigenen und die eigene
Verletzbarkeit.
Eine der
wichtigsten Fähigkeiten des Kindes ist es,
die Welt mit seinen Händen zu begreifen.
Die
Skulpturen haben eine starke haptische
Wirkung, trotzdem scheinen sie die Berührung
zu verweigern. Durch ihre farbige
Verhaltenheit verhindern sie das sinnliche
Begreifen. Dieser unmittelbare Zugang scheint
uns also versagt zu bleiben. Und nicht von
ungefähr erinnert das "Goldene
Tor" an die Welt der Mythen, die sich
dem Begreifen der Menschen des 20.
Jahrhunderts entziehen und doch erkennen wir
in den Mythen einen Teil unserer Welt wieder.
Heilung werden wir in dieser Erinnerung wohl
kaum finden, denn das Tor ist Verheißung und
Untergang zugleich, es ist das Tor zum Himmel
oder zur Hölle.
Dr.
Monika Flacke, Berlin, Katalog "Carlotta
Brunetti", 1978
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