Ingrid
Cremer "Formen, die man mit
beiden Augen ertasten kann: Volumina dehnen
sich unter der Oberfläche der Bronze aus,
blähen sich zu plastischen Segeln auf,
gespannte Rundungen mit unterschiedlichen
Krümmungsbögen. Ihnen korrespondieren
Einstülpungen und Einschnürungen,
Innenzonen, zwischen Wülsten und Graten
abstürzend oder sie in sanften Mulden
verbindend. Das Auf und Ab der Wölbungen und
Höhlungen, Raum verdrängend und wieder
einsaugend, bildet ein einheitliches Ganzes,
in dem kontrastreich Höhen und Tiefen,
Binnen- und Außenformen sich abwechseln. An
keiner Stelle ist - bis auf wenige Ausnahmen,
zum Beispiel "Die Umarmung" - die
Oberfläche zerrissen, klare Hohlkehlen oder
Negativformen vermitteln zwischen
Teilvolumina. Zwar liegt den Elementarformen
die tektonische Trias von Kopf, Ober- und
Unterkörper zugrunde, sie sind jedoch ganz
in die skulpturale Qualität des Organischen
verwandelt.
Indem
die Körperorgane sich auf das wechselseitige
Spiel der Polarität einlassen - des
Gewölbten und Gemuldeten, Gerichteten und
Gespannten, der Ambivalenz von Positiv und
Negativ, Umraum und Kern - wird das
plastische Geschehen als lebendig wirkender
Gesamtorganismus erfahrbar, das den
menschlichen Körper als beseelten Leib in
seiner Gebärdensprache zur Anschauung
bringt.
In den
letzten Plastiken verläßt Ingrid Cremer
fast ganz die Abbildhaftigkeit der
menschlichen Figur in Richtung auf eine
konsequente organische Abstraktion. So
verschmelzen die plastischen Potentiale der
"Symbiose" ( 1994) zu einer
einzigen Gebärde, einer
Konvex-Konkav-Landschaft, in der menschliche
Körper und Naturformen sich ununterscheidbar
synthetisieren. Nicht nur diese, alle
plastischen Gestaltungen verkörpern
Bewegungs- und Wachstumsprozesse, die aus
einer geheimen Mitte - dem organischen Kern
heraus leben. Aus diesem nicht bestimmbaren
Zentrum nimmt die Gebärde des Plastischen
ihren Ausgang und kehrt auch wieder zu ihm
zurück: die Gebärde des Aufgehobenseins (
in der Umarmung) und die des
Nach-Innen-Gehens, der Suche nach der
Gestimmtheit des Selbst, nach dem
'inneneren Klang'. Ingrid Cremer
überführt diesen inneren Klang in
skulpturale Sensibilität, in biomorphe
Gebilde, die im ästhetischen Ereignis die
Utopie geglückten Lebens verheißt."
Prof.
Siegfried K. Lang, Braunschweig, in:
INGRID CREMER - Plastiken und Texte,
Katalog Wolfsburg 1997
|